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Psychotherapie und Spiritualität

Christian Meyer, Artikel in der SEIN, 2013

Psychotherapie und Spiritualität gehen auch heute noch nicht Hand in Hand. Begriffe wie Ich-Transzendenz, Erwachen und Erleuchtung sind für den „Normal-Therapeuten“ nach wie vor Ziele einer esoterischen Randgruppe und haben mit der täglichen Therapiewirklichkeit nichts zu tun. Dieses Verständnis führt immer wieder zu falschen und schädigenden Behandlungsansätzen für Klienten, die spirituelle Erfahrungen gemacht haben, die sie nicht einordnen können und die sie verunsichern.

In den vierziger Jahren bis in die achtziger Jahre hinein hat die spirituelle Dimension in der Psychotherapie eine wichtige Rolle gespielt. Die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Karen Horney war eine der ersten, die die Psychotherapie nicht nur als Werkzeug ansahen, um Störungen und Krankheiten zu heilen, sondern zugleich als Mittel für menschliches Wachstum und Persönlichkeitsentfaltung; der Mensch sei sich selbst entfremdet, lebe ein „falsches Selbst“ nach den Erwartungen der anderen und dem Terror des eigenen inneren „Ich sollte dies, ich sollte das“. Ihre Arbeit zielte darauf ab, das „wahre Selbst“ zu entdecken und zu Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und Authentizität zurückzufinden. Immer mehr war sie davon überzeugt, dass dieses von ihr so genannte wahre Selbst identisch ist mit dem Ziel der Erleuchtung, wie sie es aus der Spiritualität des Zen-Buddhismus kennen gelernt hatte. Karen Horney war nicht die einzige, die sich in diese Richtung ­orientierte:

  • Auch Fritz Perls – der Begründer der Gestalttherapie – wollte eine neue Methode, „wie ich dem westlichen Menschen die Selbsttranszendenz nahe bringen kann“ (1972). Am Esalen-Institut arbeitete er mit dem bekannten Zen-Buddhisten Alan Watts zusammen.
  • Carl Rogers, der Begründer der ­Gesprächstherapie, bekannte nach eigenen spirituellen Erfahrungen: „Ich habe bisher zu Unrecht, wie viele andere, die spirituelle Dimen­sion der Psychotherapie vernachlässigt.“ (1982)
  • In der Psychoanalyse hatte Erich Fromm – zusammen mit Karen Horney, die lange mit ihm arbeitete und lebte –  die Übereinstimmung seiner psychoanalytischen Arbeit mit dem Zen-Buddhismus postuliert. Erich Fromm strebte mit seiner Arbeit die „X-Erfahrung“ an – sein Begriff für Erleuchtung, der das Unbeschreibbare ausdrücken sollte (ca. 1960).
  • Wilfred Bion, den manche neben und nach Freud den wichtigsten Psychoanalytiker nennen, postulierte als weiteren Entwicklungsschritt das „Werden in O“ (O als Abkürzung von „origin“, dem Ursprung, dem Absoluten, dem Göttlichen). Er bezieht sich dabei auf Johannes vom Kreuz (1965).

Spirituelle Ziele

Viele weitere könnten genannt werden – natürlich auch C. G. Jung. In den späten Siebzigern dann zog es viele Psychotherapeuten nach Poona zu Osho, der ebenfalls ganz explizit Spiritualität und westliche Psychotherapie zusammenbringen wollte. Das war auch die Zeit, in der ich in Hamburg Psychologie und Psychotherapie studierte. Viele wollten damals die Gestalt-, Körper- und humanistische Psychotherapie, die offensichtlich so wirksame Instrumente für menschliches Wachstum darstellten, mit dem weitergehenden spirituellen Ziel der Erleuchtung oder des Aufwachens verbinden, denn inzwischen machten auf diesem Wege viele Menschen sehr heilsame und wertvolle Erfahrungen. Auch vielen Psychotherapeuten reichte die Psychotherapie nicht aus. Sie wollten für sich selbst und für die Menschen, mit denen sie arbeiteten, weitergehende Ziele erreichen – wirkliche innere Freiheit, einen tieferen Einklang mit dem Ganzen und ein erfüllendes Glück, das sich nicht in äußeren Objekten und Erfahrungen finden ließ. Das sind spirituelle Ziele.

Auf dem menschlichen Entwicklungsweg kann man drei Wachstumsebenen unterscheiden:

  1. die Ebene der Probleme und Störungen zum Beispiel Probleme an der Arbeit, Ängste, Beziehungsschwierigkeiten, depressive Störungen und innere Konflikte
  2. die Ebene des psychischen Wachstums – viele nennen dies „Ich-Stärkung“. Hier geht es darum, dass ich mit mir im Einklang bin, mich so annehmen kann, wie ich bin, mich selbst und andere lieben kann; dass ich meine Bedürfnisse, Wünsche und Träume erkenne und in der Lage bin, mich für sie einzusetzen; dass ich mich sowohl von anderen abgrenzen als auch auf sie zugehen kann und fähig bin zu Intimität und Autonomie.
  3. die Ebene der Transzendenz – die „X-Erfahrung“ (Erich Fromm), das „Werden in O“ (W. Bion), die „Selbsttranszendenz“ (Fritz Perls), also die grundlegende spirituelle Transformation, die, wenn sie vollständig gelingt, Erleuchtung oder das Aufwachen genannt wird. Der Mensch lebt dann nicht mehr (nur) aus den Gedanken und Gefühlen heraus, sondern aus einem grenzenlosen Raum, in dem Stille, Frieden und ein viel tieferes Glück erfahrbar werden und gleichzeitig die Dinge des Lebens, wie Beziehungen und Arbeit, von einem tieferen und weiteren Blickwinkel gestaltet werden. Dazu wird auch der Verstand genutzt, der jedoch oft still ist, weil die lästigen Ichgedanken entfallen. Diese Stille des Verstandes ist die Voraussetzung für die tiefere Erfahrung der Unendlichkeit.

Der Weg zum Erwachen

Diese letzte Ebene war 1980, als ich studierte, für mich nur ein Traum und eine Vision; ich habe selber lange geglaubt, dass man sicherlich noch viele Leben inkarnieren müsse, bevor Erleuchtung geschehen könne – wenn überhaupt. Inzwischen ist dieses Aufwachen für immer mehr Menschen zur selbstverständlichen Daseinsweise geworden. Wir erforschen zum Beispiel genau diesen Prozess bei Dutzenden meiner Schüler und Schülerinnen.

Lange wurde versucht, in der Meditation diesen tieferen Raum zu finden. Das führte nur teilweise zum Erfolg. Aufgrund dessen hatte schon Osho gesagt, dass die Meditation, die hauptsächlich in der Beobachtung von Körperempfindungen oder der Beobachtung von Gefühlen besteht, die Gefahr beinhaltet, dass sich der Mensch von seinem wirklichen Erleben sogar noch weiter entfremdet. Deswegen forderte er seine Schüler auf, neben der Meditation auch – vor allem in Gruppen – Selbsterfahrung und Therapie zu machen, besonders mit den Methoden der humanistischen Psychotherapie. Aber auch dieses Nebeneinander funktionierte nicht gut. Inzwischen gibt es den sehr wirksamen Weg, die Gefühle vollständig zu erleben, sich von ihnen berühren und erfassen zu lassen, ohne etwas zu tun. Dadurch können die Gefühle sich „ausfühlen“ und man kommt in immer tiefere Schichten: von den Alltagsgefühlen zu den tieferen Gefühlen, die in Beziehungen auftauchen, zu den noch tieferen existenziellen Gefühlen, der Sehnsucht, der Angst vor der Bodenlosigkeit, dem Tod und dem Alleinsein. Durch den Abgrund hindurch, der sich unter diesen Gefühlen auftut, kann man den tieferen und grenzenlosen Raum entdecken und finden.

Es ist klar, dass dafür psychotherapeutische Methoden eine sehr wirkungsvolle Unterstützung sein können. Denn viele Menschen müssen überhaupt erst wieder  lernen, zu fühlen und Gefühle erleben und aushalten zu können. Dadurch kann endlich die Angst aufhören, dass bestimmte intensive Gefühle einen ­umbringen, und man beginnt (wieder), ­natürlich und lebendig zu werden. Diese Methoden helfen, den Körper lebendig werden zu lassen und Verstrickungen aus der Vergangenheit zu lösen. Denn wie soll ich mich in die Tiefe dieses gegenwärtigen Augenblicks hineinfallen lassen können, wenn meine ganzen inneren Energien noch im Kampf mit der Kindheit, Elternfiguren und mit mir selbst verbraucht werden?

Schädigende Fehlinterpretationen

In vielen Therapien tauchen – sei es durch spontane spirituelle Erfahrungen, die integriert werden wollen, durch die immer häufiger auftretenden Nahtod-Erlebnisse, durch spirituelle Krisen oder durch andere existenzielle Erfahrungen – spirituelle Themen auf. Wenn Psychotherapeuten auf diesem Auge blind sind, keine entsprechenden Fortbildungen gemacht haben –  noch besser ­wäre freilich, sie hätten auch durch entsprechende Selbsterfahrung wenigstens einige eigene derartige Erfahrungen –,  dann kann eine solcherart begrenzte Therapie den Menschen, der Hilfe und Unterstützung sucht, sogar schädigen. Berichtet ein Klient nach einer spirituellen Erfahrung vom Erleben einer inneren Leere, dann wird der spirituell ungebildete Psychotherapeut nahezu zwangsläufig eine latente und verdrängte Depression diagnostizieren und ihn vielleicht sogar versuchen zu überreden, in eine Klinik zu gehen. Oder wenn jemand im Rahmen spiritueller Transformation von den Ängsten des Alleinseins und der Bodenlosigkeit berichtet, werden dann ausschließlich Ereignisse des Allein-gelassen-Seins und der Angst vor Dunkelheit in der Vergangenheit gefunden und bearbeitet, nicht jedoch die existentielle Angst vor der Bodenlosigkeit und dem Tod – Ereignisse, die ja noch in der Zukunft liegen. Dadurch werden diese bedeutenden und wichtigen existentiellen Erfahrungen banalisiert und das in ihnen liegende Wachstumspotenzial vergeudet. Das sind reale Erfahrungen, die Menschen, mit denen ich mich unterhalten konnte, mit Therapeuten gemacht haben. Alle Menschen, die entweder spirituelle Erfahrungen gemacht haben oder suchen und gleichzeitig aufgrund eigener Probleme oder um des Wachstums willen psychotherapeutische Unterstützung aufsuchen, sollten darum einen Therapeuten wählen, der sich mit spirituellen Erfahrungen und Transformationen wenigstens einigermaßen auskennt.

Wie spirituell dürfen Psycho­therapeuten sein?

Aus diesem Grunde biete ich eine Fortbildung für Psychotherapeuten an, in der Methoden der tiefenpsychologischen und humanistischen Psychotherapie verbunden werden mit den Grundzügen spiritueller Begleitung. Solche Fortbildungen sind überfällig angesichts der Tatsache, dass in einer Studie die Hälfte der Psychotherapeuten nicht in der Lage waren, eine spirituelle Krise zu diagnostizieren, dass Menschen mit einer Nahtoderfahrung von mehreren Therapeuten fehldiagnostiziert und falsch behandelt wurden und angesichts der Tatsache, dass spirituelle Erfahrungen immer häufiger auftreten. Ich hatte nicht mit Schwierigkeiten ­gerechnet, als ich versuchte, eine solche von mir durchgeführte dreijährige ­Fortbildung (jährlich zwei fünftägige ­Intensivseminare) von der Psychotherapeutenkammer als berufsbegleitende Fortbildung für ärztliche und psychologische Psychotherapeuten akkreditieren zu lassen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Ausbildung zum Psychotherapeuten, sondern eine Weiterbildung. Die „spirituelle Begleitung“ als Teil des Titels war offensichtlich für die Psychotherapeutenkammer ein rotes Tuch; sie lehnte trotz von mir eingeforderter und durchgeführter Anhörung im Herbst letzten Jahres den Antrag auf Akkreditierung ab. Ich habe einen ausführ­lichen, mehr als 100-seitigen Widerspruch geschrieben, in dem ich mich gegen Verleumdungen und Diffamierungen zur Wehr setzte. Mit diesem Widerspruch befasst die Psychotherapeutenkammer sich inzwischen. Zum Glück gab es vor einigen Wochen eine sehr viel tolerantere und respektvollere Diskussion zwischen mir und dem Vorstand, der dann letztlich zu entscheiden hat – bevor der Fall bei erneuter Ablehnung zum Verwaltungsgericht gehen müsste.

Deswegen gibt es im Oktober eine ­Diskussionsveranstaltung zum Thema „Psychotherapie und Spiritualität“, zu der wir Vertreter der Psychotherapeutenkammer Berlin und ihres Vorstandes einladen werden. Wenn irgend möglich, wollen wir eine Podiumsdiskussion zwischen mir und einem Vertreter der Psychotherapeutenkammer zustande bringen. Viele spannende Fragen ­stehen an, natürlich darf sich auch das Publikum beteiligen.

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